Zum Weinen ist die Zeit zu schade
Als E-Book bei Virulent erhältlich.
Der Titel dieses autobiografischen Romans ist für mich
inzwischen zur Maxime meines Lebens geworden.
Eine ganze Nacht habe ich einen Titel nach dem anderen
auf ein weißes Stück Papier geschrieben.
Die Vorgabe lautete:
„Liefern Sie uns bis morgen früh einen anderen Titel.“
Der vom Verlag vorgeschlagene behagte mir nicht.
Er begann mit „Ich ...“.
Dabei hatte ich das Buch eben nicht unter der Prämisse
des „Ich habe das und das .. erlebt“ geschrieben.
Vielmehr habe ich mich in die Rolle meines Mannes versetzt,
habe die Perspektive vertauscht,
um alles besser verstehen zu können.
Erst später fügte ich meine Sichtweise hinzu.
Nach Erscheinen des Buches lud mich
die Universität Göttingen ein,
bei einem Angehörigen-Treffen eine Passage zu lesen.
Der Moment war sehr bewegend für mich.
Keine Frage, dass ich bei der
CJK-Angehörigen-Initiative von Beginn
an dabei war.
In den vergangenen Jahren habe ich
viele Betroffene kennengelernt
und ihr Schicksal hat mich angerührt.
Aber ihr Mut hat mir auch viel Kraft gegeben.
Im Anhang finden Sie einen Leseausschnitt
in Deutsch und Englisch.
Wenn Sie Näheres über die Erkrankung
erfahren möchten und Hilfe benötigen,
zögern Sie nicht, wenden Sie sich an:
CJK-Initiative: www.cjk-initiative.de
Wenn Sie persönlich mit mir reden wollen,
rufen Sie mich an.
Leben oder Tod, zwei oder drei
unscheinbare Striche entscheiden.
Mein subjektiver Blick auf das CJK- Angehörigentreffen
am 20.09.2014 im Referenzzentrum der Universitätsklinik Göttingen
Ein Labor wie jedes andere: Reagenzgläser, Pipetten, Apparate.
Der Raum nicht größer als ein komfortables Wohnzimmer,
die Luft abgestanden, etwas trocken, reizt die Schleimhäute.
Die Augen fangen nach einiger Zeit an zu brennen.
Der Blick aus dem Fenster fällt auf spätsommerliches Laub
an Kastanien und Buchen.
Ein junger Arzt weist auf die unscheinbare Glasplatte
in der Größe einer Tafel Schokolade.
„Sehen Sie hier, dieser Strich.“
Ich sehe ein kleines Zeichen,
es könnte von einem Erstklässler stammen,
der sich bemühte, ein akkurates Minuszeichen
auf ein Stück Papier zu setzen.
„Ein Hinweis, keine Sicherheit – hier.“
Er hält mir ein weiteres Plättchen hin.
Die Striche bilden Morsezeichen, Strich, Abstand,
Strich, Abstand, Strich.
„Eindeutig, bei diesem Patienten ist
das spezielle Protein 14-3-3 vorhanden,
das auf eine sporadische CJK- Erkrankung schließen lässt.
Im anderen Fall“, er weist nochmals
auf das verwaiste Minuszeichen auf dem Glas,
„ist die Diagnose nicht sicher, besteht nur ein Verdacht.
Wir müssen weiter prüfen, der P-T-Quick-Test
bringt mehr Eindeutigkeit.
Wir könnten ja gleich, aber der Quick ist kostspieliger
als der 14-3-3 und die Krankenkassen …, Sie wissen schon.“
Ich höre nur noch halb hin.
Die Tests – alle waren damals ohne Befund.
Heute würde der Quick-Test Gewissheit bringen.
„Seit wann gibt es diesen Test?“, höre ich mich fragen.
„Seit einem Jahr.“
Seit einem Jahr also bekommen die Betroffenen
und ihre Familien in kurzer Zeit Gewissheit.
Viel früher müssen sie sich mit der Tatsache
auseinandersetzen, dass die Zeituhr läuft
und es keine gemeinsamen Jahre mehr geben wird.
Ihnen mit dem geliebten Menschen nur noch Monate,
Stunden bleiben und auch die mit Fragezeichen.
Später in der Kaffeepause spricht mich ein Ehepaar an.
„Sie haben doch das Buch geschrieben –
wir haben uns extra einen Kindle gekauft.
Bei uns lief es genauso wie Sie es beschrieben haben.
Der Arzt meines Bruders hat nichts geschnallt.
Die Psychoschiene.
Die Böswilligen meinten, nun ja, Alkohol,
weil er schwankend ging und
nicht mehr richtig artikulieren konnte.
Und jetzt ist auch der andere Bruder erkrankt
und obwohl der erste inzwischen verstorben ist,
auch hier vom Arzt kein Reagieren.
Dabei wird er von dem Ehepartner des Arztes behandelt,
der unseren anderen Bruder begleitete.
Man müsste meinen, sie tauschen sich
untereinander aus. Wir mussten selbst
auf die Suche nach den Ursachen gehen."
Doch nichts mit der sofortigen Diagnose –
erneut der gleiche Irrweg?
Ein anderer Fall: eine Mutter, ein Ehemann.
Die Ärzte verkünden die Diagnose –
hier war der Test rechtzeitig und erfolgreich! Gratulation.
Aber welche Wirkung!
Eine Welt bricht zusammen.
Wie viel bekommt der Betroffene davon mit?
Ist es richtig, ihn mit dieser Diagnose zu konfrontieren?
Eine Frage, die beschäftigt.
Die Angehörigen überfordert mit der Pflege,
dem Begreifen,
dem immer ein Stück zu spät zu kommen,
weil die Krankheit –
dieses Alzheimer im Schnelldurchgang –
nur reagieren lässt. Jede Planung wird unmöglich,
jede Vorausschau ist nur düster.
Kapieren müssen die Angehörigen,
dass alles auf dem Kopf steht.
Das Ergebnis von drei Striche verdrängen,
welches Gänsehaut verursacht.
Den veränderten Menschen akzeptieren, auf ihn eingehen.
Er ist krank, sein Gehirn funktioniert unnormal.
Eiweiße falten sich auf, zerstören Neuronen-Verbindungen,
mal in diesem Mal in jenem Hirnbereich, mit fatalen Folgen.
Die Diagnose steht fest:
CJK-Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung
oder im Englischen: CJD (Creutzfeldt-Jakob-Disease).
Eine seltene Krankheit.
Wenn mich jemand fragt:
„So wie BSE bei den Rindern", erkläre ich stets.
Die Bilder der taumelnden Kühe
sind im Gedächtnis der Menschen haften geblieben.
„Soll ja fast so ansteckend wie dieses Ebola sein.
Nun ja, zum Glück haben unsere Ärzte
mehr Know how als die in Afrika.
Hat dein Mann so viel Rindfleisch gegessen?
Ich esse ja seit einiger Zeit vegan.
Eine ganz wundervolle Ernährungsform …"
Ich nicke nur und lasse es,
über die Ansteckungsgefahr aufzuklären.
Verschwende keine Mühe, zu erläutern,
dass nur die Hirnsubstanz extrem ansteckend ist.
Und vor Jahren, als über die CJK noch wenig bekannt war,
bei Gehirnoperationen eine Gefahr
der Übertragung bestanden haben könnte.
Heute wird das Chirurgenbesteck in solchen Fällen
nicht mehr wiederverwendet.
Das Blut eines Erkrankten ist nicht ansteckend,
trotzdem wird zum vorsichtigen Umgang geraten
und bei Blutspendern geht man auf Nummer-Sicher.
Natürlich erwähne ich nicht, dass mein Mann zwar
keinen Strichcode vorweisen konnte, aber trotzdem …
Wir haben keine Kinder,
und es handelte sich um eine sporadische Variante,
also weder um die CJK,
die nachweislich durch verseuchtes Fleisch,
noch um die Form, die durch eine Vererbung verursacht wurde.
Ich treffe andere Menschen an diesem Tag
im Referenzzentrum der Universität Göttingen,
wo die Fäden der Forschung zusammenlaufen
und die Fälle gesammelt werden.
In diesen Familien kann die tödliche Erkrankung vererbt werden.
Eine Frage steht unweigerlich im Raum:
Lasse ich mich testen oder nicht?
Erwartet mich das gleiche Schicksal
wie das meiner Mutter, wie das meines Vaters?
Wurde mir das tückische Gen vererbt?
Erneut ein Labor, erneut ein paar Zeichen.
Daumen hoch oder Daumen runter? Ja oder Aufatmen bei einem Nein?
Dieser Test verlangt Mut und bedeutet
eine schwere Entscheidung für den Einzelnen.
Ein Riss kann durch die Familie gehen,
wie ich von früheren Veranstaltungen weiß.
Eine der Schwestern wagt den mutigen Schritt,
gestaltet mit dem „Ja" ihr Leben neu,
sich immer bewusst, dass sie
an dieser Krankheit mit den drei Buchstaben
sterben wird. Mit Fünfzig, mit sechzig oder früher? Niemand weiß es.
Aber muss nicht jeder sterben?
Ein Jugendfreund von mir verunglückte
mit dem Motorrad als er vierundzwanzig Jahre alt war.
Eine Kollegin von mir starb
an aggressivem Brustkrebs mit zweiunddreißig Jahren,
meine beste Freundin nach einer zehnjährigen Leidenszeit
mit Sechsundfünfzig, kurz nach meinem Mann.
Wer kann es der anderen Schwester verdenken,
dass sie die Augen verschließt, und keinen Blick
in ihre, unter Umständen schreckliche, Zukunft
riskieren möchte.
Wer mag urteilen.
Vielleicht finden die fleißigen Forscher
im nächsten oder übernächsten Jahrzehnt ein Gegenmittel?
Wir können nicht in die Zukunft schauen.
Nebel hängt in den Bäumen,
als mein Blick bei der Rückfahrt aus dem Zugfenster streift.
Ein früher Herbst erobert sich bereits die Landschaft.
Der Zug Richtung München ist voller Menschen, o’zapft ist.